Transsibirische Eisenbahn: Moskau – Wladiwostok

Dampflok-Winter-Transsibirische-Eisenbahn

11. Januar 2020

Dampflok-Winter-Transsibirische-Eisenbahn

OSTWÄRTS

Vielleicht wird es in der norddeutschen Tiefebene eines Tages auch wieder einen richtigen Winter geben. Vielleicht aber auch nicht. Wir haben keine Lust darauf zu warten und fliegen dorthin, wo Väterchen Frost zu Hause ist.

Moskau ist bei minus 12 Grad winterlich verschneit. Doch das gedimmte Licht unter dem bleigrauen Himmel und die dreckigen Schneehaufen, welche die matschig-braunen Fahrbahnen säumen, lassen die Stadt noch trister wirken als sie ohnehin ist. (oohh…empörte Blicke über diese Aussage, bei den Touristen, die sich im Sommer die Sehenswürdigkeiten im Zentrum angesehen haben!)

Eine Stunde dauert die Fahrt von Flughafen Scheremetjewo zum Kasaner Bahnhof, der drei Ausgangsbahnhöfe für die Züge auf der legendären Transsibirischen Eisenbahn.

Drei Stunden haben wir uns die beeindruckende Architektur, die Andenkenläden, die Magazine und die Cafés des Kasaner Bahnhofs angesehen, dann ist es endlich so weit. Um 19:20 Uhr setzt der Zug mit der Nummer 118 Richtung Osten in Bewegung.

Wir reisen auf der klassischen Route der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok. Sie ist mit 9.288 Kilometern die längste Bahnstrecke der Welt. Die Bahnlinie überquert zwei Kontinente und durchquert  sieben Zeitzonen.

Wir zerren unsere Koffer in das Abteil, wo bei wir zweimal in den schmalen Türen steckenbleiben. In einem 2. Klasse Abteil haben wir gleich alle vier Betten gekauft. Das war eine gute Idee, denn in den Abteilen kann es zu viert schon ganz schön eng werden. Wir richten uns ein, verstauen die Koffer, beziehen unsere Betten und bringen der Zugbegleiterin unser kleines Geschenk. Sie freut sich so darüber, dass sie Caroline gleich umarmt. Ich werde nicht umarmt!

Transibirische Eisenbahn Reise Russland
Zugbegleiterin Elena Pavlova

Wohlige Wärme schafft gleich eine gewisse Gemütlichkeit. Russen mögen es anscheinend warm, denn im Wagon und den Abteilen ist es so warm, dass man kaum Schlaf finden kann. Unter der Decke unseres Abteils sind es locker an die 30° Celsius. So ziehe ich vom Bett unter der Decke in das untere Bett um, wo es etwas kühler ist.

Der 118er „Bummelzug“ hält an jeder Kuhbläke, Türen klappen, Geplapper auf dem Gang, Gerammel in den Abteilen und während der Fahrt erleuchten Laternen für Sekunden das Abteil. Besonders gut geschlafen haben wir nicht, dafür aber lange.

So ein Zug der Transsib ist wie ein fahrendes Kurheim. Es wird lange geschlafen, denn zu tun gibt es nicht viel. Die meisten lungern auf den Betten herum, lesen, spielen oder schlummern. Auf den kurzen Zwischenhalten, eilen die Nikotinjunkies auf den Bahnsteig und stehen dann dort mit Jogginghosen oder kurzen Hosen und T-Shirts auf dem Bahnsteig und quarzen. Karl Lagerfeld sagte einmal: „Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“. Gestern Abend fragte mich meine Frau: „Willst du die Jogginghosen anziehen“ Ich antwortete: „Noch habe ich einen Rest Würde in mir“! Heute Morgen hatte ich die Jeans in der Hand, habe mich dann aber doch für die Jogginghose entschieden. Die Transsib ist eben wie ein fahrendes Pflegeheim und mit Jogginghosen fügt man sich hier eben nur in die Gemeinschaft.

Anders als in einigen Reiseführen beschrieben, braucht man nicht zwingend Lebensmittel oder Getränke mitbringen. Der Speisewagen ist von 9 Uhr am Morgen bis 9 Uhr am Abend offen und zumeist wenig frequentiert. Die Speisewagen haben keine eigene Küche, sondern erwärmen Instandspeisen. Es gibt Personal, das mit leckeren Backwaren und Getränken durch die Wagen geht, während der Zwischenhalte kann man sich auf den Bahnsteigen versorgen und ein paar Süßigkeiten bietet die Zugbegleiterin selbst an.

So verbringen wir den ersten Tag mit liegen, lesen, essen, trinken und mit dem Betrachten der Landschaft, die am Fenster vorbeizieht. Hin und wieder liegen Ortschaften im Schnee zwischen endlosen Wäldern. Ein Mann schiebt auf der eisglatten Straße eine Lada an, jemand zieht mit einen Traktor einen Baumstamm nach Hause, um daraus wahrscheinlich Feuerholz zu machen. Die Häuser sind zumeist aus Holz erreichtet und vieles scheint so wie wir uns das eben vorstellen. Auf der Bahnstation stehen noch grobschlächtige Dreifach-Elektrolokomotiven, an dessen Front noch der rote Stern aus der Sowjetzeit prangt.

ASIEN

In der vergangenen Nacht haben wir den Ural überquert. Bei Kilometer 1777 steht nahe dem Gleis ein Stein, der die Grenze zwischen Europa und Asien markiert. Die meisten Züge passieren diesen Stein in der Nacht. Wir haben geschlafen. Wir haben den vergangenen Tag auf den Betten vergammelt und nach dem Halt in Jekaterinburg um 1 Uhr in der Nacht, bis um 10 Uhr geschlafen. Am Morgen zieht die verschneite sibirische Steppe, unterbrochen von ausgedehnten Birkenwäldern, am Abteilfenster vorbei. Das Landschaftsbild ändert sich nun nur noch in Nuancen. Große Siedlungen von Datschen kündigen die nächste Stadt an. Bahnhöfe werden zum Highlight und man steigt aus, um sich mal in eine andere Körperhaltung zu begeben.

Dabei mummeln wir uns witterungsgerecht ein. In Nazyvaevskaya zeigt das Thermometer minus 18 Celsius. Einige Russen stehen da immer noch in kurzen Hosen, mit T-Shirt oder gar mit nackten Füßen und Badeschlappen auf dem Bahnsteig und rauchen. Wir werden von einem Russen angesprochen, der intensiven Wodkageruch verströmt. Er will anscheinend wissen, wo wir herkommen. „Ja schiwu Wberlin“. Hhmm, Stuttgart und München kennt er aber Berlin nicht. Anscheinend hat der Wodka die Synapse auf der Berlin gespeichert war abgelöst. Es ist eben ab und zu wie man sich es vorstellt. Derweil nutzen Bahnangestellte die Haltezeit der Züge um den Eispanzer an den Generatoren mit Eisenstangen abzuschlagen.

Transsibirische Eisenbahn Reise

Trotzdem spenden die Lampen in den Abteilen nur funzeliges Licht. So strebt der Zug gen Nowrosibirsk, wo uns frostige minus 24 Grad erwarten. Hier verabschieden wir uns von Elena Pavlova, der netten Zugbegleiterin und steigen um 23:45 Uhr in den Zug Nummer 8 um, der uns nach Irkutsk bringt.

1. KLASSE VS. 2. KLASSE

Die 1. Klasse des Zuges ist eine Enttäuschung, auch wenn der Wagen neuer und die Toilette sauberer ist! Die Abteile sind genauso klein wie die der 2. Klasse, nur dass es die oberen Betten nicht gibt. Vorbei die Zeit, dass 1. Klasse die Gemütlichkeit von Wohnzimmern hatte, mit Polstern die schon beim sitzen zum Schlummern animierten. In der 1. Klasse der russischen Staatsbahn ist nichts erstklassig. Das Interieur versprüht den Charme eines Behandlungszimmers. Die beiden Betten der 1. Klasse sind schmal, hart und unbequem. Die einzigen Vorteile sind die Steckdosen im Abteil und das einmal ein Drei-Gänge-Abendmahl, Schokolade und Getränke im Preis inbegriffen ist.

So wachen wir mehr oder weniger gut erholt wieder kurz vor zehn auf, als die Sonne gerade über den Horizont kriecht. Schnee soweit das Auge reicht. Bäume werfen lange Schatten und Qualm aus den Kaminen einzelner Holzhäuser steigt kerzengerade in die eisige sibirische Kälte auf. Während auf unserer Seite der Scheibe kuschelige 27° Celsius herrschen, sind es auf der anderen Seite minus 35 ° Celsius!

Transsibirische Eisenbahn Reise

Krasnojarsk ist der Höhepunkt der heutigen Etappe. Vierzig Minuten hält der Zug auf dem Bahnhof, aber so lange halten wir es draußen nicht aus. Wie kann man hier wohnen? Spätestens nach dem ersten sibirischen Winter hätte ich das Weite gesucht. Hinter Krasnojarsk überquert der Zug den Fluss Jenissej, dessen noch nicht zugefrorene Fluten intensiv dampfen und die Umgebung in einen mystischen Dunstschleier hüllen. Als der Dunst sich verzogen hat, tauchen Industriebetriebe auf. Oder sind es Industriebrachen? Man kann es nicht mit Sicherheit sagen. Einige Fabrikhallen haben eine Dachbegrünung aus Birken, Tannen und anderem Wildwuchs, manche haben keine Fenster oder sind mit Graffitis verziert. Von anderen Gebäuden, die von den Brachen kaum zu unterscheiden sind, steigt Rauch auf und es parken Autos davor.

Der Zug schneidet durch die Kälte. Der Sonnenuntergang beginnt hier zu dieser Jahreszeit schon um 14 Uhr und um 16 Uhr färbt sich der Himmel über Sibirien violett und man kann aus dem kuscheligen Abteil nur allzu leicht vergessen, wie menschenfeindlich es draußen ist.

Schon am Vormittag ging die Wagonbegleiterin durch den Wagen, verkündete das drei Gänge-Abendmenü und nahm die Bestellungen auf. Wir konnten unser Glück kaum fassen und freuten uns den ganzen Tag auf Vorsuppe, Beef Stroganoff, Truthahn mit gebratenem Gemüse, die Früchte zum Nachtisch und eventuell einen Wodka. Endlich ist es dann fast halb sieben am Abend, doch der Speisewagen ist verwaist und dunkel. „Sakrui“ sagt die Wagenbegleiterin mit gekreuzten Armen. Wir gehen zurück tippen „Sakrui“ in den Übersetzer ein und siehe da, es bedeutet: Geschlossen! Wir versuchen es später noch einmal, aber der Wagen hat ein elektrisches Problem und bleibt geschlossen. Keine Suppe aus dem Becher zum Ausgleich oder sonst was. Wir gehen ins Abteil zurück und verköstigen uns aus unserer Notration. Wäre ja auch zu schön gewesen.

IRKUTSK

Irkutsk, das Paris Sibiriens und einer der kältesten Orte, die ich je besucht habe! Doch die minus 30 ° Celsius, die bei unserer Ankunft herrschen sind in Sibirien ein laues Lüftchen. Der Kälterekord von minus 67,8 Grad wird gleich dreimal in Sibirien gemessen: am 5. und 7. Februar 1892 in Werchojansk und am 6. Februar 1933 im 600 Kilometer südöstlich gelegenen Oimjakon. Die beiden russischen Orte sind die kältesten außerhalb der Antarktis*.

Nach einem vollwertigen Frühstück und nachdem wir uns in unsere Skiklamotten gehüllt haben, machen wir uns auf die Stadt zu erkunden. Zunächst laufen wir zum Ufer des Angara Flusses. Von der Mitte des Flusses, wo die Wasseroberfläche noch nicht gefroren ist, steigt dichter Nebel empor. Das mystische Schauspiel mit schemenhaften Silhouetten der Brücken und Gebäude zusammen mit der aufgehenden Sonne sollte man nicht verpassen.

Dann geht es vorbei am Zar Alexander III, dem „Weißen Haus“  das jetzt gelb gestrichen ist, die Karl-Marx-Ulitsa hoch. Rechts in der Kriaznova stehen die ersten der historischen Holzhäuser und wieder links in die Dzerjinskogo gelangen wir zum Zentralmarkt. Das Gebäude selbst ist ein gesichtsloser Betonklotz, indem jedoch ein wenig der bäuerlichen Tradition Sibiriens weiterlebt. Hier wird wie einst auf den Bauernmärkten gehandelt und gefeilscht. Wir begeben uns in die Ul. Karla Liebknechta, die Ul. Babuschkina und in die Ul. Dekabrinskikh, weiter auf die Suche nach den historischen Holzhäusern. Nun geht es zu Fuß wieder zurück zum Quarter 130, wo wir im „Castro Café“ die letzten beiden Plätze erobern.Quarter 130 ist ein neu entstandener Gebäudekomplex, in dem Elemente der Architektur Sibiriens aufgegriffen werden. Attraktiv ist dieser vor allem durch seine vielen Cafés und Restaurants.

In den vergangenen Jahren, wurde wie in ganz Russland, auch in Irkutsk kräftig investiert. Eine neue Brücke über die Flüsse Angara und Irkut, einen Vergnügungspark mit Eisenbahn. Farbe für die Gebäude, neue Straßenbahnen und Busse, ein neuer Food-Court mit Fußgängerzone und unzählige Neubauten im sachlich russischen Stil.

Für ein Kulturgut hat das Geld dann aber scheinbar doch nicht mehr gereicht. Die Altstadt von Irkutsk ist bekannt für seinen Bestand an historischen Holzhäusern und eventuell waren die Häuser auch mal schön. Heute sehen sie so aus, als hätten sie ihre letzte Renovierung zur Zarenzeit bekommen. Die einzigartigen Gebäude zeigen sich in den unterschiedlichen Verfallsstadien des Baumaterials Holz.

Transsibirische Eisenbahn Irkutsk Holzhäuser
Geburtshaus des Hubschrauber-Konstrukteurs Michail Leontjewitsch Mil in Irkutsk

Es gibt drei Arten von Holzhäusern. Häuser die abgebrannt, eingestürzt oder in einem erbarmungswürdigem Zustand sind, bei denen sich der Laie fragt, ob diese in ihrer Substanz überhaupt noch zu retten sind. Optisch werden diese Gebäude durch neue Betonmasten, die man direkt davor setzt und durch Kunststofffenster an deren Ränder der Bauschaum herausquillt, aufgewertet.

Doch es finden sich vereinzelt auch noch eben diese historischen Holzhäuser, denen zumindest eine äußerliche Rekonstruktion widerfahren ist. Es sind die wenigen Häuser die einer kommerziellen Verwertung, durch Restaurants oder anderen margenträchtigen Geschäften zugeführt wurden.

Eine Attraktion haben wir dann aber doch noch entdeckt. Das Restaurant „Love Story“, Ul. Segowa 20/1, Quartier 130! Englischsprachiges Personal, gute Musik, noch besseres Essen und das stylischste Interieur, das wir in Russland gesehen haben.

BAIKAL

Am letzten Tag des Jahres machen wir so richtig Touriprogramm und halten auf dem Weg zum Baikalsee an dem Museumsdorf Talzy. Naja, Museen sind immer irgendwie tot. Überall hängen Absperrbänder und Überwachungskameras, so dass hier garantiert nicht das Flair der Vergangenheit lebendig bleibt. Ein Highlight in Talzy ist die künstlich angelegte Eisrutsche, auf der man auf Linoleumresten hundert Meter eine Anhöhe runterrutscht. Eben alles künstlich hier!

Der nahe Angara Fluss, hüllt mit seinem Wasserdampf das Museum und die nahen Wälder in dichten Nebel. So fahren wir weiter und sind im Angesicht des Wetters schon fast enttäuscht, als ein paar Kilometer vor Listvyanka die Sonne durchbricht und sich der Baikal von seiner schönsten winterlichen Seite zeigt. In Eis erstarrte Bäume und Büsche säumen das Ufer des Sees, dessen tiefbaukalte Fluten vom Wind gepeitscht werden. Oberhalb von Listvyanka hat man einen weiten Blick über die Unermesslichkeit des Baikal und als wir aussteigen und ins dem Wind entgegenstellen, fühlen wir das minus 9° Celsius sich deutlich frostiger anfühlen können, als die windstillen minus 27° Celsius in Irkutsk.

Die Überraschung ist „Sashas Guesthouse“! Ein russisches Pärchen führt hier ein expandierendes Hotel mit Café und Restaurant. Die Speisen und Kuchenkreationen sind einfach sensationell und die Zimmer im Holzhausstil sind nicht nur gemütlich, sondern sind in Sauberkeit und Service auch besser als die meisten Hotels, die sich mit Sternen schmücken. Hier, 20 Meter vom Ufer des Baikal entfernt, sagen wir dem alten Jahr Bye, bye.

Baikal Russland Reise - Transsibirische Eisenbahn

Wir feiern im Restaurant von Sasha und Julia. Julia fragt uns wo wir her sind und ob wir spezielle Traditionen zum Jahreswechsel haben. Haben wir die? Die meisten besaufen sich und verballern wörtlich ihre Kohle. In Russland wird das alte Jahr nicht ganz so banal verabschiedet. An diesem Tag kommen Familien und Freunde zusammen und am Nachmittag kommt Väterchen Frost und bringt den Kindern Geschenke. Am Abend wird zumeist opulent gespeist und eine viertel Stunde vor Mitternacht lauschen alle der Ansprache des Präsidenten Wladimir Putin. Um Mitternacht beginnt dann die Nationalhymne und bei bescheidenem Feuerwerk heißt es dann „C novoy godom“ (gesundes neues Jahr auf Russisch).

MÄNNERSCHNUPFEN

Brutal, aber was solls! Alle schlafen ihren mehr oder weniger starken Rausch aus, während wir um 6:00 Uhr von unserem Fahrer abgeholt werden. Er bringt uns zurück nach Irkutsk, wo wir wieder den Zug besteigen, um die letzte Etappe der Transsib nach Wladiwostok in Angriff zu nehmen.

Mich plagt seit gestern ein Männerschnupfen, der ja bekanntermaßen tödlich enden kann. Ich schaffe es noch den einfahrenden Zug zu filmen und unsere Koffer im Abteil zu verstauen, bevor ich mich zwei Stunden schlafen legen muss. Als ich wieder zu mir komme, hat sich meine lebensbedrohliche Erkrankung schon bis zu Victoria und Jura, die zwei Abteile weiter wohnen, rumgesprochen. Mein Ansatz die Grippe mit Wodka zu bekämpfen war grundsätzlich richtig, jedoch nicht konsequent genug. Jura weiß was zu tun ist! Elegant schiebt er seinen riesigen Bauch durch die schmale Abteiltür und setzt sich auf mein Bett. Er hat er eine Flasche selbstgebrannten Wodka, ätherisches Öl, Brot und Fett dabei. Während wir ihm versuchen zu erklären, dass es für Wodka zu früh ist und ich vielleicht morgen einen nehme, reibt er mir bereits das Gesicht unterhalb der Nase und die Stirn großflächig mit dem intensiv riechenden Öl ein. Irgendwann erkennen wir, dass er unser Abteil nicht verlassen wird, bevor die Behandlung nicht abgeschlossen ist. So kippt er mir etwa einen viertel Liter Wodka in ein Glas, das ich mit ihm, sein Glas enthält nur etwa einen doppelten Wodka, auf einen Zug leeren muss. „S´nastarowje“ – ich kippe ihn hinunter und dämmere die nächsten Stunden im Delirium durch die Taiga. Als ich wach werde kommt Jura mit Sonnenblumenkernen und Wodka vorbei, setzt sich wieder in unser Abteil und schüttet nach! Wir trinken und werfen uns wechselseitig russische und deutsche Sprachbrocken an den Kopf. „Bolschoi Spassiwa Jura!“ Als ich dann wieder so vor mich hin dämmere und auf Besserung oder den Tod warte, kommt mir die Erkenntnis.

Es kommt nicht darauf an einen Stadtrundgang in Irkutsk zu machen, ein Kack-Museumsdorf zu besichtigen oder sich den Baikalsee vom Ufer aus anzusehen – sondern herzliche und nette Menschen wie Jura kennenzulernen, die einem einfach nur helfen wollen.

TAIGA

Der Zug schneidet durch die Kälte. Er durchquert die Taiga, Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Taiga, so dachte ich bezeichnet eine Landschaft in Russland. Falsch! Taiga bezeichnet boreale Waldgebiete, die sich weit nördlich auf der Erdkugel ausdehnen. Die größte zusammenhängende boreale Nadelwald-Wildnis bedeckt das Westsibirische Tiefland bis weit hinein ins Mittelsibirische Bergland, weshalb man die Taiga wahrscheinlich auch in Russland verortet.

Und wieder geht die Sonne auf, über Dörfer voll alter Holzhäuser und aus jedem einzelnen Kamin steigt eine Dampffahne in den Morgendunst. Industriebrachen und intakte Fabriken liegen wie erstarrt in der klirrenden Kälte und manchmal ist nur schwer der Unterschied auszumachen.

In Chernyshevsk Zabjkal´skiy hält der Zug 45 Minuten, da dort die Lok gewechselt wird. Wir steigen aus, um mal etwa frische Luft zu bekommen. Das Digitalthermometer am Bahnhof zeigt in der Tagesmitte eine Höchsttemperatur von minus 29 Grad. Wir begeben uns wieder in unser Abteil und pflegen unsere Erkältung.

Sibirien Transsib Reise
Der Zug eilt durch die Taiga, während sich die Sonne dem Horizont nähert.

BIRKENWÄLDER

Ab heute sorgt die Zeitumstellung dafür, dass die Sonne eine Stunde früher aufgeht. Langsam brauchen wir einen Tagesplan, was man alles machen will und wann der Zug auf welchem Bahnhof wie lange hält. Andere Reisende spielen den ganzen Tag Computer- oder Handyspiele, eine Minderheit liest und die meiste Zeit dösen alle bräsig in der sauerstoffabgereicherten überheizten Luft der Abteile.

Gestern habe ich während eines Halts auf einem Bahnhof versucht ein kleines Fenster anzukippen. Frau Maksimenko protestierte sofort vehement und ich musste es sofort wieder schließen.

Dateien sichern, lesen, dösen und bei längeren Halts mal aussteigen. So vergeht der Tag ereignislos, während der Zug durch die endlosen Birkenwälder, durchmischt mit Kiefern, Wladiwostok entgegen strebt.

Wir steigen in Buraja aus, um etwas frische Luft zu schnappen. Lauschige minus 10 Grad sind auf dem Bahnsteig und wir hoffen ein wenig, dass es in Wladiwostok ebenfalls nicht ganz so frostig wird. Die Hoffnung beginnt in Obluche zu bröckeln, denn hier sind am Abend schon wieder minus 24 Grad.

WLADIWOSTOK

An diesem letzten Vormittag ringen der Zugbegleiterin Natalia Maksimenko noch ein zwei Lächeln ab, können sie aber nicht zu einem Foto überreden. Bevor der Zug Wladiwostok erreicht, fährt er mehrere Kilometer den Sungacha Fluss entlang. Auf der Eisdecke, des fast vollständig zugefrorenen Flusses sitzen hunderte Eisfischer und gehen einer der beliebtesten russischen Sportarten nach. Loch bohren, in den Campingstuhl fläzen, Klappe halten und die Angel beobachten. Ab und zu wird mal ein Schluck Frostschutzmittel den Schlund runtergekippt, damit man nicht einfriert. Leider gibt es aber keine Chance, durch die dreckigen Zugfenster ein Schnappschuss davon zu machen.

Wir geben zu, dass wir uns freuen heute um 14:32 Uhr in Wladiwostok ankommen und damit die 153 Stunden lange Reise in dem kleinen unbequemen Abteil ein Ende hat. Geradezu als warm empfinden wir die minus 7 Grad in der Stadt. Zumindest für die ersten zwanzig Minuten.

Die Stadt am Pazifik verdankt ihre Bedeutung der für die Marine günstigen strategischen Lage und der Handelsschifffahrt. Wladiwostok ist der wichtigste Stützpunkt der russischen Pazifikflotte und war selbst für Russen bis 1990 Sperrgebiet. Vor dem Gipfeltreffen der APEC (Asia Pacific Economic Coorperation) 2012, wurden in der Stadt 20 Milliarden US Dollar investiert, die vor allem den Menschen der Stadt zugutekamen.

Der Besucher oder besser der Sucher der viel gelobten Sehenswürdigkeiten fragt sich zumindest hin und wieder, warum nicht auch in die historischen Gebäude im Zentrum etwas mehr investiert wurde. Viele Gebäude sehen so aus als wäre nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht viel passiert außer eben fortschreitender Zerfall. So und weil Wladiwostok nicht wirklich was zu bieten hat, dauert unser Stadtrundgang auch nicht allzu lange.

Gleich hinter unserem Hotel ist die Aussichtsterrasse des Hafengebäudes die wir zuerst besuchen. Nur wenige Gehminuten weiter stößt man auf die Kreuzung, an der die beiden schönsten Straßen von Wladiwostok, die Alentskaja Ul. und die Swjetlanskaja Ul. kreuzen. Würden diese im Reiseführer nicht so beschrieben sein, würde man sie nur als beliebige, laute und dreckige Straßen wahrnehmen.

In der Swjetlanskaja Ulitsa trifft man links auf das GUM, dass jetzt gänzlich von ZARA übernommen wurde, weil die Russinnen vor allem auf ZARA abgehen. Wir machen Pause im Café „Michele Bakery“ neben dem GUM, da die Cafés in der Fußgängerzone total überlaufen sind.

An der nächsten Ecke rechts kommt man zur Padwodnaja Lodka Ul., wo das U-Boot 56 aufgestellt ist. Man kann es besichtigen, jedoch handelt es sich lediglich um ein uraltes dieselbetriebenes U-Boot und nicht um eines der legendären Atom-U-Boot Monster.

Wladiwostok-russland-Transsib

Dann gehen wir zur Fußgängerzone in der Ul. Fokina, in der es mit seinen Pubs, Cafés und Geschäften im Sommer sicher ganz nett ist. Allerdings treffen sich hier alle Touristen und It-Russen, sodass es sogar im Winter schwer ist hier irgendwo einen Platz zu ergattern.

Letzte Station ist noch einmal der, durch italienische Restauratoren wiederhergestellte Innenbereich des Bahnhofs, der genau betrachtet die beste Sehenswürdigkeit der Stadt ist. Genau davor steht die Leninstatue, aber diese gibt es im Land nach wie vor in fast jeder Stadt.

Ähnlich wie Irkutsk, hat Wladiwostok eine lebendige junge Restaurant und Café Kultur. Für den Abend wählen wir das DAB „Drinks & Burgers“ in der Alentskaja Ulitsa. Hier gibt es die beste Speisenauswahl, Synth-Rock, Nu-Metal und Rock Musik und eine coole Innenraumgestaltung.

Für die letzte Nacht checken wir im Hotel „Vlad Point“ ein.

* www.derwesten.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert